Auswirkungen

Wie wirkt sich ein vorgeburtlicher Zwillingsverlust auf das spätere Leben des Überlebenden aus?

Um es vorwegzunehmen: Ein derart einschneidendes Ereignis wie der vorgeburtliche Zwillingsverlust kann beim Überlebenden unmöglich spurlos vorbeigehen. Immerhin handelt es sich beim Zeitpunkt dieses Ereignisses um die fragilste Phase des menschlichen Lebens. Nie wieder sind wir derart verletzlich wie im Bauch unserer Mutter. Und tatsächlich hinterlässt dieses einschneidende Ereignis lebenslang seine Spuren – bei einem mehr, beim anderen weniger. Aber dazu später mehr …..

Um das verstehen zu können, macht es Sinn, sich zu vergegenwärtigen, wie ein Embryo oder Fötus reagiert, wenn er völlig hilflos «mitansehen» muss, wie unmittelbar neben ihm seine zweite Hälfte – sein Zwilling – stirbt.

Es ist selbst für Betroffene schwer, sich vorzustellen, wie sie einst als winzig kleines Wesen – gerade mal ein paar Millimeter oder Centimeter gross – auf den Verlust ihres Zwillings reagiert haben. Es folgt nun eine Schilderung, die am ehesten abbildet, wie ein überlebender Zwilling das Sterben seines Geschwisters erlebt:

«Frühe Schock- und Trauma-Erlebnisse treffen auf einen in Formung begriffenen Organismus. Seine Abwehrreaktionen sind sehr begrenzt. Häufig besteht die einzige Art, mit einer solchen Verletzung umzugehen, in Gewebekontraktion, um die gefährdete Oberfläche zu verkleinern. Die hochgradige Hilflosigkeit des sich entwickelnden kleinen Menschen lässt die Bedrohung zur gefühlten potenziellen Vernichtung seiner Existenz werden – mit strukturellen Folgen für das spätere Erleben der Welt. [….]

Am Anfang unseres Lebens verfügen wir nur über rudimentäre Verteidigungsreaktionen. Embryonale Abwehrmechanismen bestehen aus Bewegungen im Rumpf. Es sind amphibische, sozusagen frühe Pendelbewegungen entlang unserer Längsachse, deren Zentrum in der Wirbelsäule liegt. Ein Neugeborenes [vermutlicher Druckfehler: richtig ist m. E. «Ungeborenes»] kann noch nicht rollen, sich umdrehen oder Arme und Beine organisiert bewegen. Sobald der Embryo einen unangenehmen Reiz erlebt, der ihn zu sehr stört, setzen die Pendelbewegungen ein, mit denen er zu entkommen versucht. [….] Er ist [zudem] in der Lage, seinen Körper in einer Art energetischer und emotionaler Abwehr hart zu machen, um sich gegen weitere unangenehme Gefühle zu schützen. [….]

Wenn all diese Verteidigungsversuche gegen den überwältigenden Vorgang scheitern, kann der Embryo schliesslich die Verbindung zur Umwelt durch die Nabelschnur unterbrechen. Über den hypogastrischen Plexus [ein Nervengeflecht rund um den Bauchnabel] unterdrückt ein Zusammenziehen dieser Lebensader die Nahrungszufuhr. Durch die Verbindungsunterbrechung in der Nabelschnur erhält der Körper des Embryos zu wenig Sauerstoff. Folglich steigt der CO2-Gehalt des Blutes an und löst eine heftige Notreaktion aus. Der Embryo gerät durch den Sauerstoffmangel in Panik und versucht, die Nabelschnur noch dichter zu verschliessen. [….] Am Ende steht ein körperlicher Kollaps, der für den Embryo Kontrollverlust bedeutet und letztendlich die Nabelschnur wieder öffnet.» (Schmidt, 2008, S. 143-144).

Man kann sich unschwer vorstellen, dass ein derartiges Erlebnis für den Embryo oder den Fötus in höchstem Masse traumatisierend ist und unweigerlich lebenslange Spuren hinterlässt!

Wie bereits erwähnt, zieht der frühe Verlust eines Zwillings beim Überlebenden dramatische Auswirkungen nach sich! Ein früh im Leben erlittenes Trauma hat das Potenzial, im Lauf der Jahre jeden Bereich des Lebens von Betroffenen nachhaltig zu beeinflussen. Das betrifft sowohl die emotionale, die psychische als auch die physische Ebene.

Das erlebte traumatische Ereignis bildet die Grundlage für das spätere physische Verhalten, die äussere Erscheinung und auch die Gesundheit. Sogar Entscheidungen, wie beispielsweise die Wahl der Partner oder Partnerinnen und des Berufes, wird dadurch beeinflusst!

«[Ungelöste Traumata] können unsere Gewohnheiten und unsere Lebenseinstellung beeinflussen, zu Suchterkrankungen führen und uns schlechte Entscheidungen treffen lassen. Sie können unser Familienleben und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen belasten. Sie können Auslöser für konkrete körperliche Schmerzen, Symptome und Erkrankungen sein. Und sie können zu zahlreichen selbstzerstörerischen Verhaltensweisen führen.» (Levine, 2005/2023,  S. 11).

Wen kann es da noch erstaunen, wenn Alleingeborene überdurchschnittlich oft an Beschwerden, Syndromen und Krankheiten leiden, für die es keine Erklärung zu geben scheint. Robert Scaer formuliert es so: «[….] dass die traumatischen Ereignisse, denen ein Mensch im Laufe seines Lebens ausgesetzt ist, die meisten chronischen Krankheiten verursachen, die unsere derzeitigen Vorstellungen über Gesundheit und Krankheit nicht zu erklären vermögen.» (Scaer, 2014/2022, Das Trauma-Spektrum, S. 30).

Unter der Rubrik «Symptome» findest Du zahlreiche konkrete Beispiele, wie der vorgeburtliche Zwillingsverlust sich auf den Überlebenden auswirkt.

Definition
Beweisbarkeit
Häufigkeit
Ursachen
Feststellbarkeit
Trauma
Voraussetzungen
Auswirkungen
Schweregrad
Verdrängung
Lösungswege
Literatur