Vorgeburtliche Traumata, wie beispielsweise der Verlust eines Zwillings oder zweier Drillinge, haben unweigerlich Auswirkungen auf das spätere Leben von Betroffenen.
Das war bei mir nicht anders. Wie könnte es auch – nach zwei Abtreibungen, die ich zwar überlebt habe, aber die meinen beiden Geschwistern das Leben gekostet haben und mich schwer traumatisiert zurückliessen?
Ich werde mich auf zwei einzelne Episoden aus meinem Leben beschränken, um damit aufzuzeigen, in welchem Ausmass sich diese vorgeburtlichen Traumata auf mein Leben ausgewirkt haben:
Im Alter von 17 Jahren verliebte ich mich an einer Party zum ersten Mal in meinem Leben in ein damals 15-jähriges Mädchen. Ich schwebte wie auf Wolken und war so glücklich wie nie zuvor.
Und das Schicksal meinte es offenbar sogar besonders gut mit mir, denn genau an diesem Wochenende hatte ich eine «sturmfreie Bude». Nach der Party zog sich mein Schwarm ins Gästezimmer zurück und begab sich ins Bett. Ich kniete mich davor, denn wir hatten einander unglaublich viel zu erzählen. ….
Irgendwann sagte ich zu ihr: «Mir wird langsam kalt – ich werde jetzt in mein Zimmer gehen und mich ebenfalls schlafen legen». Darauf fragte sie mich: «Warum kommst Du denn nicht zu mir ins Bett?» Eine solche Frage braucht ein Mädchen einem verliebten 17-jährigen Jungen natürlich nicht zweimal zu stellen.
Danach kuschelte ich mich an sie und genoss ihre Nähe mit jeder Faser meines Körpers. Mehr war da nicht! Ehrlich! Ich war restlos glücklich, mich einfach nur an sie kuscheln zu dürfen.
Als sie drei Wochen später per Brief unsere Beziehung für beendet erklärte, war ich wie vom Donner gerührt. Trotzdem fühlte ich keinen Schmerz, und ich vergoss keine einzige Träne, obwohl ich immer noch bis über beide Ohren in sie verknallt war.
Es hat mehr als 45 Jahre gedauert, bis ich verstand, wieso ich mich damals so atypisch verhalten hatte: Ich hatte meine «erste grosse Liebe» mit der wirklich ersten Liebe meines Lebens verwechselt – mit derjenigen zu meiner Drillingsschwester, die mir so früh weggenommen wurde. Deshalb hatte mir in jener Nacht das Kuscheln, das Fühlen des geliebten Wesens neben mir, völlig gereicht, um restlos glücklich zu sein. Ich hatte mich in die Gebärmutter zurückversetzt gefühlt, «als die Welt noch in Ordnung war.»
Kein Wunder also, dass auch der spätere Verlust meiner ersten grossen Liebe das Verlusterlebnis im Mutterleib getriggert hat. Und auch meine Reaktion darauf war entsprechend dieselbe wie damals: Schockstarre und absolute Gefühlstaubheit.
Im Alter von 49 Jahren musste ich mich einer Nasenscheidewand-Operation unterziehen, weil ich jahraus jahrein unter chronischem Schnupfen litt. Obwohl ich wusste, dass es sich dabei nicht um eine Hochrisiko-OP handelte, und obwohl ich ebenfalls wusste, dass der Chirurg diesbezüglich sehr erfahren war, hatte ich derart Angst vor dem bevorstehenden Eingriff, dass ich vorgängig meine Papiere in Ordnung brachte und mein Testament schrieb.
Die OP fand frühmorgens statt und verlief ohne Komplikationen. Aber am späteren Nachmittag – allein in meinem Zimmer – überfiel mich eine unvorstellbare Panik. Ich erlebte Todesängste, begleitet von einem Gefühl, «vernichtet zu werden» und dabei völlig wehr- und hilflos zu sein. Ich dachte daran, mich umzubringen, nur um diesem absolut unerträglichen Zustand ein Ende zu bereiten.
Solche Panikattacken, die mir über viele Jahre hinweg das Leben zur Hölle machten, überfielen mich stets «wie aus heiterem Himmel». Am schlimmsten waren die Nächte: Ohne starke Beruhigungsmittel war an Schlaf gar nicht erst zu denken, und selbst da erwachte ich oft mitten in der Nacht schweissgebadet und zitternd vor Angst.
Diesmal sollte es 15 Jahre dauern, bis ich die wahre «Ur-Sache» dieser Angstattacken aufdecken konnte:
Um den überschüssigen Knorpel an meiner Nasenscheidewand abzuschaben, hatte der Chirurg eine sogenannte «Kürette» – ein löffelartiges, scharfkantiges Instrument – verwendet. Aber genau so eine Kürette hatte einst auch die Hebamme benutzt, welche bei meiner Mutter die Abtreibungen vorgenommen hatte. Allerdings wurde damals nicht die Nasenscheidewand, sondern die Gebärmutterwand ausgeschabt, um so der Schwangerschaft ein Ende zu setzen.
Mein Unbewusstes – mein Hirnstamm und mein Körpergedächtnis – hat sich bei der Nasenscheidewand-OP an das damalige Mordinstrument erinnert und mich entsprechend in dieselbe Todesangst versetzt, wie ich sie als Embryo und später als Fötus in der Gebärmutter erlebt hatte.
Die schrecklichen Ereignisse vor meiner Geburt und viele weitere schmerzhafte Erfahrungen im Verlaufe meines Lebens haben mich aber auch dorthin geführt, wo ich heute bin. Und sie liessen mich zu dem Menschen werden, der ich heute bin. Letzten Endes ist es genau dieser nicht einfachen Lebensgeschichte zu verdanken, dass ich in Zukunft mit meinen Seminaren anderen alleingeborenen Zwillingen und Drillingen helfen darf, ihr vorgeburtliches Verlust-Trauma zu überwinden.
Danke, liebes Schicksal!
Anneliese
Seit bald 50 Jahren bin ich schon an der Seite von Walter. In dieser langen Zeit habe ich einige «spezielle» Verhaltensweisen von ihm kennengelernt, welche für mich zu dieser Zeit absolut unerklärlich waren:
Vor allem in der ersten Verliebtheit hatte ich das Gefühl, als wollte er mir nicht nur körperlich nahe sein, sondern am liebsten in mich hineinschlüpfen. Ich konnte nicht wissen, dass es sich hierbei um das typische Verhalten eines Schmelzzwillings handelt, der auf diese Weise sein Bedürfnis nach Verschmelzen mit seiner verlorenen Drillingsschwester reinszenierte.
Dass man als Paar nicht gleich nach ein paar Wochen heiratet, ist normal. Allerdings hat es bei Walter 13 Jahre gedauert, bis er mir den lang ersehnten Antrag stellte. Auch hier konnte ich nicht wissen, dass es sich diesmal um das typische Verhalten eines Fluchtzwillings handelt. Fluchtzwillinge haben eine unvorstellbare Angst vor engen Bildungen, weil für sie damit untrennbar ihre Angst vor erneutem Schmerz durch Verlust oder Verlassen-Werden verknüpft ist.
Seit klar ist, dass er ein alleingeborener Drilling ist, erscheinen nicht nur diese beiden, sondern auch viele andere atypische Verhaltensweisen in einem neuen Licht. Durch meine Beziehung mit einem Alleingeborenen wurde und werde ich immer noch zwangsläufig mit diesem Thema konfrontiert. Seit Walter seine Traumata therapiert, und vor allem seit er an seinen geplanten Seminaren arbeitet, habe auch ich mich intensiv damit beschäftigt, denn für nahe Angehörige ist es wichtig, die oft seltsam anmutenden Verhaltensmuster und Denkweisen des Partners oder der Partnerin nachvollziehen zu können.
Ich bin stolz, Walter bei seinem Herzensprojekt zu unterstützen, denn dank meiner Erfahrungen als nahe Angehörige bin ich in der Lage, dem Seminar zusätzliche Impulse zu verleihen.