Schweregrad

Wieso leiden nicht alle Alleingeborenen gleichermassen stark unter dem vorgeburtlichen Verlust ihres Zwillings?

Dass es in dieser Hinsicht beträchtliche Unterschiede gibt, hat mehrere Ursachen: Aus der Trauma-Forschung weiss man, dass es von vier Faktoren abhängt, ob ein bestimmtes Quantum an Stress bloss als belastend empfunden wird, oder ob dadurch bei Betroffenen ein Trauma ausgelöst wird.

Bettina Alberti, Diplom-Psychologin und psychologische Psychotherapeutin, beschreibt diesen schmalen Grat folgendermassen: «An der Schnittstelle von noch gelingender Verarbeitung belastender und uns überfordernden Erfahrungen liegt Trauma.» (Alberti, 2005, S. 126).

Und dies sind die erwähnten vier Faktoren, von denen es abhängt, ob eine belastende Erfahrung uns überfordert und zu einem Trauma führt oder nicht:

Zeitpunkt

1) Der Zeitpunkt der belastenden Erfahrung

In erster Linie ist es der Zeitpunkt der belastenden Erfahrung, welcher darüber entscheidet, ob es zu einem Trauma kommt oder nicht.

«Es scheint, dass das Trauma umso schwerer ausfällt, je eher es stattfindet. Es liegt nahe, dass das erste Schwangerschaftsdrittel eine besonders brisante Zeit ist, denn in dieser Phase werden viele Organsysteme gebildet und die Entwicklung des Gehirns findet statt.» (Janov, 2012, Vorgeburtliches Bewusstsein, S. 38).

Im Embryonal-Stadium ist eine belastende Erfahrung also besonders problematisch: Die äusserst schmerzhafte Erfahrung des Zwillingsverlusts führt in dieser Phase des Lebens beim überlebenden Zwilling zwangsläufig zu einem Trauma, denn er fühlt sich dieser überwältigenden Situation absolut hilflos ausgeliefert.

«Tatsächlich hat der Säugling ein weit geöffnetes sensorisches Fenster und ist sensibler, als er je wieder sein wird. Er fühlt mehr, weil er keinen entwickelten Kortex und kein denkendes Gehirn hat, um Erfahrung zu verdünnen.» (Janov, 1991/1993, Der neue Urschrei, S. 45).

Dauer

2) Die Dauer der belastenden Erfahrung

Auch die Dauer einer belastenden Erfahrung ist massgeblich für das Ausmass eines Traumas verantwortlich: In manchen Fällen zieht sich der vorgeburtliche Sterbeprozess des einen Zwillings über mehrere Tage hin. Das ist für den verbleibenden Zwilling unvorstellbar belastend und kaum auszuhalten. Er ist dazu verdammt, völlig hilflos «zuzuschauen», denn er kann ja absolut nichts tun, um dieser überaus belastenden Situation zu entkommen.

Noch schlimmer trifft es einen überlebenden Zwilling, der nach dem Tod seines Zwillings-Geschwisters wochen- oder gar monatelang neben dessen Leiche ausharren muss. Ab einem bestimmten Zeitpunkt der Schwangerschaft wird die abgestorbene Leibesfrucht nämlich nicht mehr von der Gebärmutter resorbiert. Vielmehr kommt es in der Folge zu einer Mumifizierung des verstorbenen Fötus. Die Medizin spricht von einem «fetus papyraceus». Der überlebende Zwilling versucht dann bis zum Ende der Schwangerschaft verzweifelt, nicht in Berührung mit der Leiche neben ihm zu kommen.

Kein Wunder, werden manche Zwillinge mit einer Skoliose (seitliche Verbiegung der Wirbelsäule) geboren.

Übrigens: 80 % (!) der festgestellten Fälle einer Skoliose stuft die Medizin als «angeboren», bzw. idiopathisch (ohne erkennbare Ursache entstanden) ein. (Pschyrembel, 2023, S. 1629).

Intensität

3) Die Intensität der belastenden Erfahrung

Ein weiteres entscheidendes Kriterium für das Entstehen eines Traumas ist die Intensität der belastenden Erfahrung. Anders ausgedrückt: Können wir die belastende Erfahrung auf irgendeine Art und Weise bewältigen oder nicht? 

Wenn dies nicht der Fall ist, dann sorgt das Überlebenszentrum (Hirnstamm und alte Teile des limbischen Systems) dafür, dass sich der Körper auf Kampf oder Flucht einstellt.

Da diese Reaktion bei einem Embryo naturgemäss zum Scheitern verurteilt ist, greift sein Überlebenszentrum zur allerletzten Notfallmassnahme: Zum Totstell-Reflex. Aber auch diese Massnahme ist nicht in der Lage, der unerträglichen Erfahrung ein Ende zu setzen.

«Geraten wir in eine Situation, in der die instinktiven Möglichkeiten von Flucht, Angriff oder Sich-tot-Stellen nicht ausgeführt werden können, entsteht extreme Hilflosigkeit.» (Alberti, 2005, S. 129).

Diese Hilflosigkeit ist für den überlebenden Zwilling derart unerträglich, dass er sich gezwungen sieht zu dissoziieren. Er spaltet die unerträglichen und längerfristig tödlichen körperlichen Empfindungen ab und «flüchtet sich» in die Gefühllosigkeit.

Es gibt jedoch noch weitere Faktoren, welche darüber bestimmen, wie intensiv ein Embryo oder Fötus eine traumatische Situation im Mutterleib wahrnimmt:

Wieviel Zeit hat der alleingeborene Zwilling im Bauch seiner Mutter mit seinem Geschwister verbracht? Tage oder Wochen oder Monate? Je länger er mit ihm zusammen war, desto enger dürfte die Bindung zu ihm geworden sein – und entsprechend traumatischer dürfte sich der darauffolgende Verlust auf den überlebenden Zwilling ausgewirkt haben.

In welchem Abstand voneinander haben sich die beiden Zwillinge in der Gebärmutterwand eingenistet? Je kleiner der Abstand, desto enger dürfte die Bindung gewesen sein – und entsprechend traumatischer dürfte sich der darauffolgende Verlust auf den überlebenden Zwilling ausgewirkt haben.

Ist der eine Zwilling einer Abtreibung zum Opfer gefallen, während der andere diese überlebt hat? Diese Art des Verlusts hat der alleingeborene Zwilling mit Sicherheit als besonders traumatisch erlebt, weil zum unermesslichen Schmerz infolge des Verlusts seines geliebten Geschwisters auch noch die Angst um das eigene Überleben hinzukam.

Kontext

4) Der Kontext der belastenden Erfahrung

Unsere allererste und instinktgebundene Reaktion auf belastende und uns überfordernde Erfahrungen besteht darin, uns Hilfe zu holen, indem wir uns einem anderen Menschen zuwenden, in der Hoffnung, dass dieser uns hilft und uns beschützt.

Aber ein kleiner Embryo oder Fötus kann jedoch auf keine Hilfe zählen …. Er muss die ihn belastende und überwältigende Erfahrung ganz alleine bewältigen.

Abgesehen von den oben beschriebenen vier Faktoren, welche massgebend für den Schweregrad eines Traumas verantwortlich sind, gibt es noch einen fünften Faktor, welcher darüber entscheidet, wie stark ein alleingeborener Zwilling im Verlauf seines Lebens unter dem erlittenen Verlusttrauma leiden wird:  Sollte er im Verlauf seiner ersten 1000 Lebenstage – das umfasst die Zeit der Schwangerschaft sowie die ersten beiden Lebensjahre – ein weiteres Mal (oder gar mehrere Male) erneut traumatisiert werden, dann verschlimmert das sein bestehendes Trauma ganz erheblich:

Wiederauftreten

Wiederholt auftretende belastende Erfahrungen

Wenn ein Mensch noch vor seiner Geburt sein Zwillings-Geschwister verliert, dann ist er ab da «vorbelastet». Er ist infolgedessen weniger resilient als jemand, der keine solche traumatische Vorgeschichte hat.  Ein alleingeborener Zwilling wird in seinem Leben somit deutlich stressanfälliger und leichter aus seinem inneren Gleichgewicht zu bringen sein als jemand, der diese vorgeburtliche Erfahrung nicht gemacht hat.

Das alles hat zur Folge, dass ein bereits traumatisierter Mensch wesentlich anfälliger für eine weitere Traumatisierung ist als ein Nicht-Traumatisierter.

Und das sind meiner Ansicht nach die wichtigsten Umstände, welche dazu führen, dass ein alleingeborener Zwilling in seinem Leben überdurchschnittlich stark unter dem vorgeburtlichen Verlusttrauma leiden wird:

Hat der alleingeborene Zwilling ein Geschwister verloren oder der alleingeborene Drilling deren zwei? Wenn letzteres der Fall ist, dann sind die traumabedingten Auswirkungen mit Sicherheit gravierender, weil jedes weitere Trauma unweigerlich ein bereits vorhandenes reaktiviert und zugleich intensiviert. 

Traten im Verlauf der Schwangerschaft – abgesehen vom traumatischen Verlust eines Geschwisters – weitere Probleme auf? Gesundheitliche Probleme, Angst vor der Geburt oder ein traumatisches Erlebnis seitens der werdenden Mutter während der Schwangerschaft reaktivieren und intensivieren zwangsläufig das vorhandene Trauma des Ungeborenen.

Gab es bei der Geburt Probleme? Eine Zangengeburt, eine Geburt unter Zuhilfenahme einer Saugglocke, eine schwierige Geburt in Steisslage, die Nabelschnur, die sich um den Hals des Kindes gewickelt hat, oder eine Kaiserschnittgeburt sind Faktoren, welche das vorhandene Verlusttrauma unweigerlich reaktivieren und intensivieren. 

Fühlte sich der alleingeborene Zwilling vor und nach seiner Geburt unwillkommen? Wurde er nicht (oder nur selten) gestreichelt und geherzt? Wurde er nicht gestillt? All das führt beim Neugeborenen zu massivem Stress, und sein Körper reagiert entsprechend mit dem Ausschütten von Stresshormonen.

Aber das ist noch nicht alles: Das Fehlen von ausgiebigem Hautkontakt, von Blickkontakt und vom Stillvorgang führt dazu, dass der kleine Körper kaum Oxytocin produziert. Und dabei hätte das Ausschütten des sogenannten «Liebeshormons» (auch «Kuschelhormon» genannt) massgeblich dazu beigetragen, die schädlichen Auswirkungen der Stresshormone, die sein kleiner Körper schon seit dem erlittenen Verlust seines Zwillings im Mutterleib ausgeschüttet hat, zu minimieren.

Aber auch nach seinen ersten 1000 Lebenstagen ist der alleingeborene Zwilling anfälliger für weitere belastende Erfahrungen als Einlinge, welche die schmerzliche Erfahrung des Zwillingsverlusts nicht gemacht haben:

Wuchs der alleingeborene Zwilling in einem problematischen Umfeld auf? Lieblose oder gar gewalttätige Eltern, das Nichtakzeptiertsein durch ältere Geschwister, das Erleben von Mobbing als Jugendlicher verschlimmert die Lage des Alleingeborenen zusätzlich. Auch Vernachlässigung und Nicht-beachtet-Werden durch die Eltern führen dazu, dass sich zum vorhandenen Schocktrauma infolge des Zwillingsverlusts noch ein sogenanntes Entwicklungstrauma hinzugesellt.

Wird «die erste grosse Liebe» als positives und beglückendes Ereignis erlebt? Falls ja, dann wird die Erinnerung an das brutale Ende «der allerersten grossen Liebe» (jene zum Zwilling) um eine neue positive Erfahrung erweitert und das erlittene Trauma dadurch abgemildert.

Sollte die erste Jugendliebe jedoch mit negativen Gefühlen und emotionalem Schmerz («Ich wurde verlassen») verbunden sein, dann zementiert dies den anlässlich des Zwillingsverlusts entstandenen Glaubenssatz (ein Glaubenssatz ist ein Satz, den Dein Unbewusstes glaubt) «Je grösser meine Liebe zu jemandem ist, desto mehr muss ich später leiden».

Und dies verschlimmert nicht nur das erlittene Verlusttrauma, sondern es öffnet gleichzeitig Tür und Tor für spätere Beziehungsprobleme, was den Leidensdruck von Alleingeborenen nochmals enorm erhöht.. 

Wenn Alleingeborene im Verlauf ihres Lebens weitere traumatische Ereignisse erleben (eine Vergewaltigung, ein schwerer Raubüberfall, eine Naturkatastrophe, etc.), dann trägt auch dieser Umstand wesentlich dazu bei, dass Betroffene in ihrem Leben entsprechend stark unter den Folgen des vorgeburtlichen Verlusttraumas leiden werden. .

Zusammengefasst: Jeder einzelne der oben aufgeführten Faktoren trägt massgeblich dazu bei, dass Alleingeborene stärker unter ihrem vorgeburtlichen Zwillingsverlust leiden werden. Und entsprechend wird auch die Anzahl und die Schwere der traumabedingten Symptome massiv zunehmen und ihnen das Leben schwer machen.

Dabei handelt es sich um nichts anderes als um eine (unter Umständen komplexe) posttraumatische Belastungsstörung. Und daraus ergibt sich eine schier endlose Liste von möglichen Symptomen, welche von Alleingeborenen vielfach nicht als das erkannt werden, was sie sind: direkte und indirekte Spätfolgen des erlittenen Verlusts eines Zwillings im Mutterleib.

Definition
Beweisbarkeit
Häufigkeit
Ursachen
Feststellbarkeit
Trauma
Voraussetzungen
Auswirkungen
Schweregrad
Verdrängung
Lösungswege
Literatur